Wie denkt Deutschland über Sexarbeit?

Wir haben 1.009 Menschen in Deutschland repräsentativ befragt: Wie denken sie über Prostitution? Wie bewerten sie die Situation von Sexarbeiter:innen? Soll Sexarbeit vielleicht sogar verboten werden?

 

Hintergrund

Sexarbeit ist ein Tabuthema, über das hierzulande wenig bis gar nicht gesprochen wird – und das dennoch stark polarisiert. Während die einen in ihr eine Bedrohung für die Rechte der Frauen im Allgemeinen sehen, gehört sie für andere unweigerlich zu einem offenen, gesellschaftlichen und sex-positiven Leben dazu. 

Doch was verstehen wir eigentlich unter dem Begriff “Sexarbeit”? So einfach wie zunächst angenommen, ist eine Definition keineswegs. „Niemand kann haargenau sagen, wo Sexarbeit anfängt und wo sie aufhört – genauso wenig, wie wir sagen können, wo Sex anfängt und wo er aufhört“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal in ihrem Essay Wenn Sex nicht die Antwort ist, was ist dann die Frage? und macht auf eine Reihe von Mythen rund um die Sexarbeit aufmerksam, die tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Sie lauten:

  1. Männer brauchen mehr Sex als Frauen
  2. Männer beuten Frauen, von denen sie den Sex bekommen, den sie brauchen, aus
  3. vor allem, wenn sie dafür bezahlen

Die Journalistin und ehemalige Sexarbeiterin Melissa Gira Grant weist uns in ihrem Buch Hure spielen – Die Arbeit der Sexarbeit ferner darauf hin, wie divers die Branche mittlerweile geworden ist: “Sexarbeiter_innen arbeiten für Begleitagenturen, gehen auf dem Straßenstrich anschaffen, sind Hostessen, Stripper_innen, Pornodarsteller_innen oder Webcam-Girls. Die Arbeit ist so verschieden, dass die Vorstellung einer Branche oder Industrie ihre Vielfalt nicht angemessen zu repräsentieren scheint. Alle Formen von kommerziellem Sex so in eine Schublade zu stecken, würde das Beschriebene derart reduzieren, dass dadurch nur wieder hartnäckige Klischees bestätigt würden.”

Ähnlich unklar, wie die Begrifflichkeiten, über die wir hier sprechen, ist die öffentliche Meinung, die hierzulande zu dem Thema vorherrscht. Wissenschaftliche Untersuchungen sind – bis auf wenige Ausnahmen – Mangelware. Unsere Umfrage kann daher als Versuch gedeutet werden, die gesellschaftliche Meinung in Deutschland einzufangen und mit konkreten Zahlen zu beschreiben.

 

Die Sexarbeit im Spiegel der öffentlichen Meinung

Einen der ersten Versuche, die öffentliche Meinung zur Prostitution darzustellen, wurde im Jahr 2020 von der Alice Schwarzer Stiftung unternommen. Unter dem Titel Prostitution und Prostitutionsverbot im Spiegel der öffentlichen Meinung veröffentlichte sie „die erste große Umfrage zur Prostitution“ und war überzeugt: Die Politik müsse endlich handeln! Doch die Ergebnisse der Umfrage zeigen: So negativ, wie von der Stiftung behauptet, ist die öffentliche Meinung zur Sexarbeit gar nicht.

Als eines der größten erotischen Online-Portale im deutschsprachigen Raum haben wir daher beschlossen, eine neue repräsentative Umfrage in Auftrag zu geben. Wir wollten von den Teilnehmenden wissen:

  • Wie beurteilen sie die Situation von Sexarbeiter:innen in Deutschland?
  • Wie denken sie über Gewalt und Zwangsprostitution, Diskriminierung und Ausgrenzung?
  • Was halten sie konkret von einem Verbot der Prostitution?

 

Die Ergebnisse

Die Umfrage “Wie denkt Deutschland über Sexarbeit?” wurde vom 24. bis 31. August 2022 durch das Marktforschungsinstitut Splendid durchgeführt. Es wurden 1.009 Menschen im Alter von 18-69 Jahren repräsentativ befragt. 

 

1. Sexarbeit gehört zu einer Gesellschaft dazu

Eine Gesellschaft ohne Sexarbeit scheint für die meisten Umfrageteilnehmer nur schwer vorstellbar. Für 77% der Befragten ist Prostitution schon immer ein Teil der Gesellschaft und für 81% wird sie auch zukünftig ein Teil dieser sein. Und trotzdem ist sie für viele Menschen noch immer mit einem Tabu behaftet. Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ist auch im Jahr 2022 ein Thema: Dem Satz “Viele Sexarbeiter:innen haben mit gesellschaftlicher Diskriminierung zu kämpfen” stimmen in unserer Umfrage 78% zu.

Interessant: 14% der Befragten – also jeder Siebte – gibt an, schon einmal selbst die erotischen Dienstleistungen einer Sexarbeiter:in oder Domina in Anspruch genommen zu haben. 

 

2. Die Situation von Sexarbeiter:innen in Deutschland

Dass Sexarbeit ein heikles und sensibles Thema ist, ist vielen Menschen klar. So zeigen sich 30% der Teilnehmenden unserer Umfrage besorgt, dass ein Einstieg in die Sexarbeit nur selten freiwillig passiert. Und trotzdem sind zwei Drittel der Befragten der Meinung, dass die Tätigkeit “als Job wie jeder andere auch” behandelt werden sollte. 

Insgesamt wird die Entwicklung in der Sexarbeiter-Branche in Deutschland als positiv bewertet. So meinen 35%, dass sich die Situation der Sexarbeiter:innen in den letzten Jahren verbessert habe und 42% stimmen dem Satz “Sexarbeiter:innen sind heute besser vor Ausbeutung und Gewalt geschützt als früher” zu. 

Eine wichtige Rolle scheint hier auch das Internet zu spielen. So findet eine Mehrheit von 58% der Befragten, dass sich durch das Netz die Chance für Prostituierte ergibt, ihre Tätigkeit selbstbestimmter auszuüben. Weitere 54% sind überzeugt, dass Sexarbeiter:innen durchaus auch Spaß an ihrem Job haben können.

3. Deutsche sind klar gegen ein Prostitutionsverbot

In vielen Ländern weltweit gilt ein grundsätzliches Prostitutionsverbot. Auch die Anspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen steht in vielen Teilen der Welt unter Strafe, so zum Beispiel in Schweden. Beim sogenannten “Nordischen Modell” handelt es sich dort um eine asymmetrische Form der Kriminalisierung: Bestraft wird nicht die Prostituierte, sondern derjenige, der ihre Dienste in Anspruch nimmt. 

Auch in Deutschland wird von manchen Politiker:innen ein solches Verbot der Sexarbeit nach schwedischem Vorbild gefordert. Nach den Ergebnissen unserer Umfrage findet dieser Vorschlag in der Bevölkerung jedoch keine Mehrheit. So geben zwar 34% der Befragten an, dass die Gesetzeslage für Prostitution hierzulande unzureichend sei, doch das “Nordische Modell” wird mit 56% klar abgelehnt. Nur jeder Fünfte (20%) würde die Einführung eines solchen Modells hierzulande begrüßen. Ein kategorisches Verbot der Sexarbeit stößt mit 58% im Übrigen auf noch größere Ablehnung. 

Auf die Frage, welche Auswirkungen ein Sexkaufverbot auf die Situation der Sexarbeiter:innen hätte, finden die Teilnehmenden unserer Umfrage ebenfalls eine klare Antwort: 70% denken, dass sich die Situation insgesamt verschlechtern würde. Nur 8% glauben das nicht. 

Da die Frage der Kriminalisierung / Legalisierung für viele Sexarbeitende jedoch von essentieller Bedeutung ist, wollen wir im Folgenden einen genaueren Blick in die Daten werfen:

 

  • Männer vs. Frauen

Die Frage, ob und wie Prostitution in Deutschland bestraft werden sollte, wird von Männern und Frauen sehr ähnlich beantwortet. Während 62% der Männer das “Nordische Modell” ablehnen, sprechen sich ebenfalls 50% der Frauen dagegen aus. Nur 19% der Männer (bzw. 22% der Frauen) sind dafür. 

 

  • Politisches Abstimmungsverhalten

Auch unter den Anhänger:innen der im Bundestag vertetenen Parteien ist die Ablehnung des “Nordischen Modells” groß. Über Parteigrenzen hinweg findet ein solches Verbot in Deutschland keine Mehrheit. Am deutlichsten wird die Ablehnung bei den Anhänger:innen der AfD (63%), gefolgt von der FDP (62%), DIE LINKE (58%), Grüne (57%), CDU / CSU (54%) und SPD (54%).

 

  • Regionen

Auch über Ländergrenzen hinweg stößt das “Nordische Modell” mehrheitlich auf Ablehnung. Besonders unbeliebt ist das Modell in Niedersachsen, Sachsen und Thüringen. Die größte Zustimmung für das Modell gibt es in  Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Jedoch ist es hier wichtig festzustellen, dass die Zustimmungswerte mit Anteilswerten von 13-27% (nur Hamburg erzielt 40%) nicht mehrheitsfähig sind.

Wenn in Schweden ein Mann eine Prostituierte besucht, droht ihm eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Das sollte auch in Deutschland gelten.

 

Bundesland

Zustimmung in %

Ablehnung in %

Niedersachsen

21

66

Sachsen

13

65

Thüringen

23

62

Bremen

25

62

Sachsen-Anhalt

26

60

Rheinland-Pfalz

26

59

Nordrhein-Westfalen

24

57

Baden-Würrttemberg 

23

54

Berlin

13

54

Brandenburg

18

54

Hessen

19

54

Schleswig-Holstein

27

54

Bayern

17

53

Saarland

20

53

Mecklenburg-Vorpommern

27

50

Hamburg

40

44



Fazit: “Keine Arbeit ist durch Kriminalisierung jemals sicherer geworden”

Klar ist: Die deutsche Bevölkerung ist gegen ein Sexkaufverbot. Diese Ansicht deckt sich mit einer aktuellen Stellungnahme der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung. Darin heißt es: “Insbesondere sprechen wir uns abschließend gegen ein – oft im Namen der diskursiven Vermischung von Prostitution und Menschenhandel gefordertes – sogenanntes ‘Sexkaufverbot’, also einer Kriminalisierung der Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen, aus. Umfassende Untersuchungen aus Ländern, in denen entsprechende Gesetze bereits umgesetzt sind, zeigen, dass diese strafrechtliche ‘Lösung’ nicht nur Sexarbeitenden generell, sondern auch vulnerablen, migrantischen Sexarbeiter:innen und Opfern von Menschenhandel schadet.”

Sexarbeiterin River Roux sieht das ähnlich. Sie erklärt in einer persönlichen Stellungnahme: “Fakt ist, dass Sexarbeitende Menschen sind, die sich aus diversen Gründen für die Ausübung ihres Berufs entschieden haben. Es steht uns nicht zu, diese Entscheidung von oben herab zu bewerten oder anzuzweifeln. Das zu tun bedeutet, dass Sexarbeitenden pauschal ihr Recht auf Selbstbestimmung und ihre Mündigkeit abzuerkennen.”

Und weiter erklärt sie: “Die vollständige Dekriminalisierung der Sexarbeit ist das einzige legale Modell, dass den Bedürfnissen von Sexarbeiterinnen gerecht wird. Sexarbeit muss als vollwertiger Beruf anerkannt und als solcher behandelt werden. Diskriminierende Maßnahmen wie die Kriminalisierung unserer Klienten oder die Registrierungspflicht nach dem Prostituiertenschutzgesetz stigmatisieren Sexarbeiter*innen und befördern sie weiter ins gesellschaftliche Aus. Das hat katastrophale Folgen für das finanzielle und psychische Wohlbefinden von Sexarbeitenden, verschlechtert ihre Arbeitsbedingungen und setzt sie – im schlimmsten Fall – Ausbeutung und Gewalt aus. Keine Arbeit ist durch Kriminalisierung jemals sicherer geworden.”

Die vorliegende Untersuchung zeigt: Sexarbeit wird von der deutschen Bevölkerung als wesentlicher Teil der Gesellschaft wahrgenommen und stößt mehrheitlich auf Zustimmung und Unterstützung. Trotzdem sehen die Befragten in Teilen der Branche Handlungsbedarf – vor allem aber auf Seiten des Gesetzgebers. Man wünscht sich klare Gesetze, welche die Arbeit von Sexarbeiter:innen nicht verhindern, sondern besser schützen sollen. 

Vorschläge für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Sexarbeiter:innen liegen hinreichend auf dem Tisch. Sie wurden von Organisationen, wie dem Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V., dem Berufsverband Sexarbeit oder Hydra Berlin längst erarbeitet und werden auch von Amnesty International, der WHO und der Deutschen Aidshilfe unterstützt. Es liegt nun an der Politik, diese Vorschläge umzusetzen – und das muss in letzter Konsequenz bedeuten: die Sexarbeit vollständig zu dekriminaliseren.  

 

Ausblick

Unsere Studie “Wie denkt Deutschland über Sexarbeit?” besteht aus zwei Teilen. Der erste hier veröffentlichte Teil ist dazu gedacht, neue, aktuelle Schlaglichter auf die öffentliche Meinung innerhalb der deutschen Bevölkerung zu werfen. In einem zweiten Teil folgt dann ein ganz neuer, einmaliger Blickwinkel, der ansonsten viel zu selten im Mittelpunkt der Diskussion steht: Wir lassen Sexarbeiterinnen – und ihre Kunden – zu Wort kommen. Wie beurteilen sie selbst ihre Situation? 

Sie möchten den zweiten Teil der Umfrage nicht verpassen? Senden Sie einfach eine E-Mail an [email protected] und wir lassen Ihnen den zweiten Teil der Studie nach Veröffentlichung zukommen. Alternativ können Sie uns natürlich auch auf Twitter folgen und so auf dem Laufenden bleiben. 

 

Quellen

  • Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung: Stellungnahme der GSPF zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Jugend und Familie am 12. Mai 2022 zum Thema “Situation der Prostituierten in Bayern”
  • Grant, Melissa Gira : Hure spielen – Die Arbeit der Sexarbeit
  • Sanyal, Mithu M.: Wenn Sex nicht die Antwort ist, was ist dann die Frage?